Maurice Merleau-Ponty - Die Welt der Wahrnehmung (1946) 

Vorlesung 2 - Der Raum

Aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt von Lukas Hövelmann-Köper und Pierre Laurent

VORLESUNG 2 

Die Welt der Wahrnehmung erforschen:

Der Raum

Es ist oft gesagt worden, dass moderne Künstler und Denker schwierig sind. Picasso ist schwieriger zu verstehen, ja zu lieben als Poussin oder Chardin; dasselbe gilt für Giraudoux oder Malraux im Gegensatz zu Marivaux oder Stendhal. Einige, wie Julien Benda, haben sogar den Schluss gezogen, dass die modernen Schriftsteller "byzantinisch" sind, dass sie schwierig sind, weil sie nichts zu sagen haben und mit Subtilität anstelle von Kunst hausieren gehen. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Wenn das moderne Denken schwierig ist und dem gesunden Menschenverstand zuwiderläuft, dann deshalb, weil es sich mit der Wahrheit befasst; die Erfahrung erlaubt es ihm nicht mehr, sich mit den klaren und einfachen Begriffen zu begnügen, die der gesunde Menschenverstand schätzt, weil sie Seelenfrieden bringen. So versuchen die modernen Denker, selbst die einfachsten Ideen zu enträtseln und die klassischen Begriffe im Lichte unserer Erfahrung zu überarbeiten. Heute möchte ich als Beispiel für diesen Ansatz eine Idee betrachten, die auf den ersten Blick die klarste von allen zu sein scheint: das Konzept des Raums. 

Die klassische Wissenschaft geht von einer klaren Unterscheidung zwischen dem Raum und der physischen Welt aus. So ist der Raum das einheitliche Medium, in dem die Dinge in drei Dimensionen angeordnet sind und in dem sie unabhängig von der Position, die sie einnehmen, gleich bleiben. In vielen Fällen ändern sich die Eigenschaften eines Objekts, wenn es bewegt wird. Wenn ein Gegenstand vom Pol zum Äquator bewegt wird, ändern sich sein Gewicht und vielleicht sogar seine Form aufgrund des Temperaturanstiegs. Beide Veränderungen - Gewicht und Form - können jedoch nicht auf die Bewegung als solche zurückgeführt werden: Der Raum ist am Pol derselbe wie am Äquator. Die Veränderung, die von einem Ort zum anderen auftritt, ist eine der physikalischen Bedingungen, der Temperatur. So bleiben die Bereiche der Geometrie und der Physik völlig getrennt: Form und Inhalt der Welt vermischen sich nicht. Die geometrischen Eigenschaften des Objekts würden nach dem Umzug gleich bleiben, wenn sich nicht die physikalischen Bedingungen ändern würden, denen es ebenfalls unterworfen ist. So wurde es in der klassischen Wissenschaft angenommen. Alles ändert sich, wenn wir mit dem Aufkommen der so genannten nicht-euklidischen Geometrie dazu übergehen, den Raum selbst als gekrümmt zu betrachten und dies als Erklärung dafür heranziehen, dass sich die Dinge einfach dadurch verändern können, dass sie bewegt werden. Der Raum besteht also aus einer Vielzahl verschiedener Regionen und Dimensionen, die nicht mehr als austauschbar angesehen werden können, und aus Räumen, die bestimmte Veränderungen bei den Körpern bewirken, die sich in ihnen bewegen. Anstelle einer Welt, in der die Unterscheidung zwischen Identität und Veränderung klar definiert ist und jeweils einem anderen Prinzip zugeschrieben wird, haben wir eine Welt, in der die Objekte nicht als völlig selbstidentisch angesehen werden können, eine Welt, in der es scheint, als ob Form und Inhalt vermischt sind und die Grenze zwischen beiden verschwimmt. 

In einer solchen Welt fehlt der starre Rahmen, den einst der einheitliche Raum von Euklid bot. Wir können nicht mehr absolut zwischen dem Raum und den Dingen, die ihn einnehmen, unterscheiden, und auch nicht mehr zwischen der reinen Idee des Raums und dem konkreten Anblick, den er unseren Sinnen bietet. Es ist verblüffend, dass sich die Erkenntnisse der Wissenschaft mit denen der modernen Malerei decken. Die klassische Lehre unterscheidet zwischen Umriss und Farbe: Der Künstler zeichnet das räumliche Muster des Objekts, bevor er es mit Farbe ausfüllt. Cézanne hingegen bemerkte: "Sobald man malt, zeichnet man", womit er meinte, dass man weder in der Welt, wie wir sie wahrnehmen, noch im Bild, das Ausdruck dieser Welt ist, absolut unterscheiden kann zwischen dem Umriss oder der Form des Gegenstands einerseits und dem Punkt, an dem die Farben enden oder verblassen, jenem Farbenspiel andererseits, das notwendigerweise alles umfassen muss, was es gibt: die Form des Gegenstands, seine besondere Farbe, seine Physiognomie und seine Beziehung zu den benachbarten Gegenständen. Cézanne bemüht sich, die Umrisse und die Form der Gegenstände auf dieselbe Weise hervorzubringen, wie es die Natur tut, wenn wir sie betrachten: durch die Anordnung der Farben. Wenn er also einen Apfel malt und seine farbige Textur mit unermüdlicher Geduld wiedergibt, schwillt er an und sprengt die Grenzen der braven Zeichenkunst. In diesem Drang, die Welt so wiederzuentdecken, wie wir sie in der gelebten Erfahrung wahrnehmen, bleiben alle Vorsichtsmaßnahmen der klassischen Kunst auf der Strecke. Nach der klassischen Lehre basiert die Malerei auf der Perspektive. Das bedeutet, dass ein Maler, wenn er zum Beispiel mit einer Landschaft konfrontiert wird, eine ganz konventionelle Darstellung dessen, was er sieht, auf seine Leinwand bringt. Er sieht den Baum in der Nähe, dann richtet er seinen Blick weiter in die Ferne, auf die Straße, und schließlich auf den Horizont; die scheinbaren Dimensionen der anderen Objekte ändern sich jedes Mal, wenn er auf einen anderen Punkt blickt. Auf der Leinwand arrangiert er die Dinge so, dass das, was er darstellt, nur ein Kompromiss zwischen diesen verschiedenen visuellen Eindrücken ist: Er bemüht sich, einen gemeinsamen Nenner für all diese Wahrnehmungen zu finden, indem er jedes Objekt nicht mit der Größe, den Farben und dem Aussehen wiedergibt, die es aufweist, wenn der Maler es in seinem Blick fixiert, sondern mit der konventionellen Größe und dem Aussehen, die es bei einem Blick aufweisen würde, der auf einen bestimmten Fluchtpunkt am Horizont gerichtet ist, einen Punkt, in Bezug auf den die Landschaft dann räumlich entlang von Linien angeordnet ist, die vom Maler zum Horizont verlaufen. Die auf diese Weise gemalten Landschaften haben eine friedliche Ausstrahlung, einen Hauch von respektvollem Anstand, der daher rührt, dass sie unter einem ins Unendliche gerichteten Blick gehalten werden. Sie bleiben auf Distanz und beziehen den Betrachter nicht mit ein. Sie sind eine höfliche Gesellschaft: Der Blick streift ungehindert über eine Landschaft, die dieser souverän-leichten Bewegung keinen Widerstand entgegensetzt. Aber so erscheint die Welt nicht, wenn wir ihr in der Wahrnehmung begegnen. 

Wenn unser Blick über das, was vor uns liegt, wandert, sind wir gezwungen, in jedem Augenblick einen bestimmten Standpunkt einzunehmen, und diese aufeinanderfolgenden Momentaufnahmen eines bestimmten Bereichs der Landschaft können nicht übereinander gelegt werden. Nur durch die Unterbrechung des normalen Sehvorgangs gelingt es dem Maler, diese Reihe von visuellen Eindrücken zu beherrschen und daraus eine einzige, unveränderliche Landschaft zu extrahieren: Oft schließt er ein Auge und misst mit dem Bleistift die scheinbare Größe eines bestimmten Details und verändert es dadurch. Indem er alle diese Details diesem analytischen Blick unterwirft, entsteht auf der Leinwand eine Darstellung der Landschaft, die keinem der freien visuellen Eindrücke entspricht. Damit kontrolliert er die Bewegung ihrer Entfaltung, tötet aber auch ihr zitterndes Leben ab. Wenn viele Maler seit Cézanne sich geweigert haben, dem Gesetz der geometrischen Perspektive zu folgen, so deshalb, weil sie die Entstehung der Landschaft vor unseren Augen wiedererlangen und reproduzieren wollten. Sie haben sich nicht mit einem analytischen Überblick begnügt, sondern sich bemüht, das Gefühl der Wahrnehmungserfahrung selbst wiederzuerlangen. So werden verschiedene Bereiche ihrer Gemälde aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet. Der unaufmerksame Betrachter wird hier "perspektivische Fehler" sehen, während derjenige, der genau hinschaut, das Gefühl einer Welt bekommt, in der keine zwei Objekte gleichzeitig gesehen werden, einer Welt, in der die Regionen des Raums durch die Zeit getrennt sind, die wir brauchen, um unseren Blick von einer zur anderen zu bewegen, einer Welt, in der das Sein nicht gegeben ist, sondern erst mit der Zeit entsteht. Der Raum ist also nicht mehr ein Medium gleichzeitiger Objekte, die von einem absoluten Beobachter erfasst werden können, der ihnen allen gleichermaßen nahe ist, ein Medium ohne Standpunkt, ohne Körper und ohne räumliche Position - kurz, das Medium des reinen Intellekts. Wie Jean Paulhan kürzlich bemerkte, ist der Raum der modernen Malerei "ein Raum, den das Herz fühlt", ein Raum, in dem auch wir uns befinden, ein Raum, der uns nahe ist und mit dem wir organisch verbunden sind. Paulhan fügte hinzu: Es kann gut sein, dass der kubistische Maler in einem Zeitalter, das sich der technischen Vermessung verschrieben hat und gleichsam von der Quantität verzehrt wird, im Stillen - in einem Raum, der mehr auf das Herz als auf den Intellekt ausgerichtet ist - die Vermählung und Versöhnung des Menschen mit der Welt feiert. Nach der Wissenschaft und der Malerei scheinen auch die Philosophie und vor allem die Psychologie erkannt zu haben, dass unser Verhältnis zum Raum nicht das eines reinen, körperlosen Subjekts zu einem fernen Objekt ist, sondern das eines Wesens, das im Raum wohnt und sich auf seinen natürlichen Lebensraum bezieht. Dies hilft uns, die berühmte optische Täuschung zu verstehen, die Malebranche festgestellt hat: Wenn der Mond noch am Horizont steht, erscheint er viel größer als im Zenit. Malebranche ging davon aus, dass die menschliche Wahrnehmung die Größe des Planeten durch einen bestimmten Denkprozess überschätzt. Wenn wir ihn durch eine Pappröhre oder den Deckel einer Streichholzschachtel betrachten, verschwindet die Täuschung; sie wird also dadurch verursacht, dass wir den Mond beim ersten Erscheinen über Felder, Mauern und Bäume hinweg erblicken. Diese große Anzahl dazwischenliegender Objekte macht uns bewusst, dass wir uns in einer großen Entfernung befinden, woraus wir schließen, dass der Mond tatsächlich sehr groß sein muss, um trotz dieser Entfernung so groß zu erscheinen. Das wahrnehmende Subjekt gleicht in dieser Hinsicht dem Wissenschaftler, der überlegt, bewertet und schlussfolgert, und die Größe, die wir wahrnehmen, ist in der Tat die Größe, die wir beurteilen. Die meisten Psychologen von heute verstehen die Illusion des Mondes am Horizont nicht so. Durch systematische Experimente haben sie herausgefunden, dass die scheinbare Größe von Objekten auf der horizontalen Ebene im Allgemeinen bemerkenswert konstant ist, während sie auf der vertikalen Ebene sehr schnell kleiner werden. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass die horizontale Ebene für uns, die wir auf der Erde leben, der Ort ist, an dem sich unsere wichtigsten Bewegungen und Aktivitäten abspielen. Was Malebranche also der Tätigkeit eines reinen Intellekts zuschrieb, führen die Psychologen dieser Schule auf eine natürliche Eigenschaft unseres Wahrnehmungsfeldes zurück, nämlich die eines verkörperten Wesens, das gezwungen ist, sich auf der Oberfläche der Erde zu bewegen. In der Psychologie wie in der Geometrie wurde die Vorstellung eines einzigen, einheitlichen Raumes, der dem entkörperten Intellekt völlig offen steht, durch die Idee eines Raumes ersetzt, der aus verschiedenen Regionen besteht und bestimmte privilegierte Richtungen aufweist; diese stehen in engem Zusammenhang mit unseren besonderen körperlichen Merkmalen und unserer Situation als in die Welt geworfene Wesen. Hier stoßen wir zum ersten Mal auf die Vorstellung, dass der Mensch nicht Geist und Körper ist, sondern ein Geist mit Körper, ein Wesen, das nur deshalb zur Wahrheit der Dinge gelangen kann, weil sein Körper gleichsam in diese Dinge eingebettet ist. Wir werden in der nächsten Vorlesung sehen, dass dies nicht nur für den Raum gilt, sondern ganz allgemein für alle äußeren Objekte: Wir können nur durch unseren Körper Zugang zu ihnen finden. In menschliche Eigenschaften gekleidet, sind auch sie eine Kombination aus Geist und Körper.

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